Karl Krolow – Wenn die Schwermut Fortschritte macht

Karl Krolow – Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Leipzig: Reclam 1993.

Karl Krolow

Jubel

Auf einem Felde
spielende Kinder –
unversehens steigen sie
als Lerchen in den Himmel.

Der Jubel lässt sich nicht
fangen.

Tränenlose Augen leuchten.

Der Fuß spürt nicht
daß erste zertretene Gras.

Das Leben ohne Schlaf –
seine Speise heißt Licht.

Ein herabgestürzter Ast
beginnt zu blühen.
(1963) (S. 80)

Am Leben bleiben

Man besteht darauf,
am Leben zu bleiben,
zählt an zehn Fingern,
was man für Glück hält,
sieht in verschiedene Gesichter,
läßt sich grüßen und grüßt zurück,
empfindet physische Reife.
Licht fällt in gerader Linie,
wenn Mittag ist und
die Emotionen gedämpft sind.
Ich laufe nicht mehr Wörtern nach,
wenn ich dicht neben dir schlafe
und nicht merke, wie schnell
man scheitert und schweigt.
(1976) (S. 145)

Verhaltensweise

Das Anzünden eines Streichholzes –
eine nachgemachte Bewegung.
Man verfügt über bestimmte Verhaltensweisen,
kennt sich aus, ohne zu wissen.
Die unbeschnittenen Bäume
sind unterdessen dem Himmel näher.
Du legst wie andere
deine Hand über die Augen,
um besser ins scharfe Blau zu sehn,
das den Sommer nachahmt
mit hohem Blutdruck und dem Drang,
körperlich nachzugeben,
im Stehen zu schlafen oder zu lieben
und nachgemachte Wörter
wahllos zu verwenden.
Der Mund kennt sich aus,
der sich öffnet.
Er spricht nach,
was niemand wissen will.
Die triebhafte Sprache bleibt so
in Übung.
(1977) (S. 146f.)

Sag endlich was

Sag endlich was: ich hör einen Vogel singen.
Ich sehe eine Wiese Narzissen im März.
Sag ruhig: so geht es nicht himmelwärts.
Du kannst es mit Worten zu etwas bringen.

Du trägst mit den Händen ein Licht in das Zimmer.
Sag endlich: es werden die Worte sich finden
wie mord oder wie ein im Selbstmord Verschwinden.
Du stehst, mit dem Licht in der Tür, für immer.

Es bleibt dieses Schweigen als ein Leuchten auf Händen,
zwischen Fingern das Licht, das unsicher scheint.
Du lächelst. Es sind jetzt die Worte gemeint
als stille Gewalttat, wenn Beziehungen enden.
(1981) (S. 157)

Das ist unheimlich gesponnen

Das ist doch verwegene Süße.
Das ist doch einfach nicht wahr –
Du bewegst die bloßen Füße.
Du streichst die ruhig durchs Haar.

Das ist unheimlich gesponnen.
Daran stimmt doch was nicht?
Das sind doch verwegene Wonnen.
Seh ich wirklich dein Gesicht?

Ist das echt? Du hältst die Augen
mir ganz nah vor Augen hin –
Blicke, die sich in mich saugen,
wie betäubt. Ist das noch drin

oder ist das sehr weit draußen
und bestimmt ganz wunschlos weg,
ohne Innen oder Außen?
Märchenhaft – dieses Versteck!

Sagenhaft – versuche beizeiten
hinzusehen, was du siehst.
Stauen von allen Seiten
kommt auf dich zu, wenn du’s liest:

„Bis im Anschaun ew’ger Liebe
wir verschweben, wir verschwinden.“
Staunen ist ein Wiederfinden.
Was sind Blicke, Augen, Liebe?
(1982) (S. 161f.)

Unter einem Dach

Sie lachen die ganze Zeit.
Man findet sie zu vergnügt.
Was spielen sie für ein Spiel?
Ein Spiel, das manchen genügt,
ein Spiel, das immer gefiel:
es brauchte eine Kleinigkeit,
bis man begreift, daß es trügt.
Es braucht eine lange Zeit,

bis uns das Lachen vergeht.
Man spürt es nach und nach,
wie es ernst wird und wie es steht
mit uns unter einem Dach,
woher der Wind uns weht.
Wie liegen lange wach,
und die schöne Zeit vergeht,
wie wir unter einem Dach.
(S. 190)

Was tu ich?

Was tu ich? Ich weiß nicht: mitunter
weiß ich nicht mehr, was ich tu.
Es geht ein Vorhang herunter.
Ich seh dem Ende zu.

Ich lese. Ich schreibe. Das sagt sich
einfach. Doch scheint es nur so.
Ist das alles? fragt man und fragt sich
es selten genug. Man beklagt sich
doch lieber und glaubt, nirgendwo

sei noch etwas zu tun, es sei nutzlos,
noch etwas von dem zu machen,
was andere taten. Ganz schutzlos
lebt sich’s fort unter Siebensachen.
(S. 191)

Was bleibt

Von allem nichts mehr, denn ich habe
genug und ich hatte zuviel.
Ich hatte Gedächtnis. Ich grabe
darin wie halb im Spiel

noch einmal vergeblich, vergesse,
wie alles eigentlich war
und ein bloßer Schein nur: ich messe
die Zeit nicht mehr, Jahr um Jahr.

Ich lasse mir Zeit jetzt und lasse
den Tag mit dem Tage vergehen.
Von allem bleibt nichts. Und ich fasse
in Luft nur und nenn‘ es Geschehen.
(S. 193)

Als liebte man sich noch immer

Als liebte man sich noch immer,
als hätte man nie verzichtet
und was man angerichtet,
doch nur vergeblich geschlichtet:
wir wissen nun und für immer,
was uns am Ende vernichtet.

Wir lassen auf uns beruhn.
In Wahrheit sammeln wir Scherben.
Und was auch immer wir tun:
wir werden geprüft vorm Sterben.
(S. 193)

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